Prof. Dr. Julia Mehlich

Staatliche Lomonosov-Universität Moskau

Curriculum Vitae

Julia Mehlich ist Professorin am Lehrstuhl für Philosophie der naturwissenschaftlichen Fakultäten der Staatlichen Lomonosov-Universität Moskau. Nach dem Studium der Philosophie an der Belarussischen Staatlichen Universität Minsk wurde sie 1994 mit ihrer Dissertation „Analyse der theoretischen Ansätze und konzeptionellen Vorstellungen zu ,Frieden‘, ,Gewalt‘ und ,Konflikt‘ in der bundesdeutschen Friedensforschung“ an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. 2002 habilitierte sie sich am Institut für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau mit einer Arbeit über den personalistischen Inhalt der Philosophie L. P. Karsavins. Professorin Mehlich war von 2004 bis 2005 im Rahmen eines Senior Fulbright Scholarship an der Stanford University und 2008 im Rahmen einer DFG-Förderung am Slavischen Institut der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg tätig. Zudem forschte sie von 2009 bis 2010 im Rahmen eines EU-Stipendiums am Institut für Slavistik der Technischen Universität Dresden. 2014 war sie Gastprofessorin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und an der Pontifícia Universidade Católica do Rio Grande do Sul / Universidade Federal do Rio Grande do Sul in Porto Alegre, Brasilien. Von Januar bis Juli 2016 sowie von Januar bis März 2018 war sie Fellow am Käte Hamburger Kolleg „Recht als Kultur“.

Forschungsprojekte

Die Begegnung von Rechtsnihilismus, Kommunitarismus und liberalem Recht.
Kultur und Geltungstheorie in Russland

In den 90-er Jahren wurden in Russland die Weichen hin zu einem neoliberalen Modell der Zivilgesellschaft und des Rechtsstaates und damit einer Abkehr vom Rechtsnihilismus des sowjetischen Kommunitarismus gestellt. Seither nimmt der Liberalisierungsprozess der Gesellschaft Formen eines äußersten Individualismus an. Russland wandte sich den neoliberalen Prinzipien in einer Zeit zu, als diese im Westen vom Kommunitarismus zurückgedrängt wurden. Das Forschungsprojekt konzentriert sich auf die Analyse dieser in Russland als paradox definierten Situation und untersucht deren theoretische Grundlagen. Eine solche bietet etwa S. Hessen (1887–1951) mit seinem auf die Rechtfertigung des Rechts zielenden Konzept, das es ermöglicht, das Festhalten an der Rechtsordnung zugleich mit der Tradition des russischen Rechtsnihilismus (als der in Russland bestimmenden Form des Kommunitarismus) zu verbinden. Er konstatiert die positiven Züge des Liberalismus: die Anerkennung der „Undurchdringlichkeit der Persönlichkeit“, ihres „suprasozialen Kerns“, der für den Einfluss des Kollektivs und der Umwelt unerreichbar bleibt, – und überträgt diese auf die „kollektive Persönlichkeit“. Die scheinbar paradoxe Annäherung von Liberalismus und Kommunitarismus mit ihrem jeweiligen als gegensätzlich wahrgenommenen Rechtsbewusstsein findet im Rückgriff auf diesen in der russischen personalistischen Philosophie ausgearbeiteten Begriff der „kollektiven Persönlichkeit“ (L. Karsavin, 1882–1952) ihre theoretische Grundlegung. Demnach werden „gesellschaftliche Vereinigungen bzw. Gemeinschaften“ wie etwa Universitäten, Kooperativen, Gilden etc. individuellen Personen gleich betrachtet, die sich durch eine eigene Tradition, einen eigenen, von den jeweiligen Mitgliedern unabhängigen Willen auszeichnen. Diese „kollektiven Persönlichkeiten“ gelten zudem als Träger einer „überpersönlichen“ Aufgabe oder Idee, die die jeweiligen Mitglieder nicht durch gemeinsame Interessen, sondern durch die „gemeinsame Ausführung“ ein und derselben „gesellschaftlichen Funktion“ eine, und erweisen sich damit als Träger eines „objektiven kulturellen Interesses“ oder „überpersönlichen kulturellen Wertes“. Der „neue“ Liberalismus, so Hessens Kritik, habe sich nicht dazu entschließen können, den Individualismus auch auf die „kollektiven Persönlichkeiten“ auszudehnen. Bei der Annäherung von Liberalismus und Kommunitarismus gehe es indes nicht darum, den Individualismus durch Kollektivismus zu ersetzen, sondern darum, das Prinzip des Individualismus zu erweitern.

Philosophisch-literarische Aspekte des Rechtsnihilismus in Russland. Von F. Dostoevskij und L. Tolstoj zu V. Pelevin und A. Ivanov

Erforscht werden die kulturelle Verankerung und Geltungsdimension rechtlicher Vorstellungen anhand des Phänomens des Rechtsnihilismus in der russischen Philosophie und Literatur, der als ein historisch und konzeptionell zu differenzierendes Charakteristikum der russischen (Rechts-)Kultur gilt. Im Zentrum der Analyse stehen die sich gegenseitig beeinflussenden und ergänzenden Verbindungen der betreffenden philosophisch-literarischen Paradigmen und Ansätze in ihrem prägenden Einfluss auf das Verständnis von Recht. Unter diesem Blickwinkel werden maßgebliche Werke bekannter Schriftsteller und Philosophen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere F. Dostoevskij, L. Tolstoj, I. Il‘in und S. Hessen, und Autoren der Gegenwart, u. a. V. Bibikhin, V. Pelevin und A. Ivanov, untersucht. Zum einen geht es um die Begründung des Rechts als eines selbständigen Wertes mit eigenem Geltungsanspruch, zum anderen – um die Begründung des Sollenden und Seienden, also des wirklichen Rechts, mittels des Primats und der Überlegenheit des moralisch fundierten Rechts als Gerechtigkeit. Das Primat der praktischen Vernunft bei I. Kant erfährt in Russland eine Transformation hin zu einer Verabsolutierung der Moral, einer alles durchdringenden Moralisierung. So dominieren etwa in Tolstojs Schriften die Modalprädikative nado (muss, soll, ist notwendig) und nužno (muss, ist notwendig) statt dolžno (muss, soll), die keine epistemische Bedeutung zum Ausdruck bringen, vielmehr eine notwendige moralische Forderung erzwingen sollen. Es wird der Frage nachgegangen, inwieweit die moralischen Aufforderungen in den Texten der untersuchten Schriftsteller das Rechtsbewusstsein ersetzen bzw. ergänzen.

Publikationen (Auswahl)

  • Wege und Schicksale der russischen Philosophie in Deutschland (Пути и судьбы русской философии в Германии) // Russische Philosophie im Ausland: Geschichte und Gegenwart, hrsg. von M. A. Maslin, zsgest. von L. E. Motorina (Русская философия за рубежом: история и современность. Под ред. М. А. Маслина, сост. Л. Е. Моторина), Moskau: KNORUS 2017, S. 74-121.
  • The Transcendental Foundations of the Individual in the Philosophy of Sergei I. Hessen // Russian Studies in Philosophy, vol. 54, no. 5, 2016, pp. 368-377. DOI: 10.1080/10611967.2016.1290418
  • Neo-Kantianism in Russia. Special issue of the journal Russian Studies in Philosophy, vol. 54, no. 5, 2016, pp. 359-448 (co-edited with Steffen H. Mehlich)
  • Der radikale Pragmatismus N. F. Fedorovs als Überwindung der Philosophie Kants // Studies in East European Thought, vol. 68, no. 2-3, 2016, pp. 193-211. DOI 10.1007/s11212-016-9256-7
  • Die irrationale Erweiterung der Philosophie I. Kants in Russland (Иррациональное расширение философии И. Канта в России), St. Petersburg: Aleteja 2014 (344 S.) – Rez. von A. Dioletta Siclari in: Studi Kantiani 2015, № XXVIII, S. 115-119.
  • Die Formen der Kausalität in der transzendentalen Philosophie von S. I. Hessen (Формы причинности в трансцендентальной философии С. И. Гессена) // Vestnik der Russischen Christlichen Geisteswissenschaftlichen Akademie (Вестник Русской христианской гуманитарной академии) 2013, Bd. 14. Ausgabe 4, S. 182-194.
  • Lev Platonovich Karsavin, Hrsg. von S. S. Choruzhij, Yu. B. Melikh (Лев Платонович Карсавин. Под ред. С. С. Хоружего, Ю. Б. Мелих), Moskau: ROSSPĖN 2012 (Reihe: Die Philosophie Russlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) (Серия: Философия России первой половины XX века).
  • Der Personalismus von L. P. Karsavin und die europäische Philosophie (Персонализм Л. П. Карсавина и европейская философия), Moskau: Progress–Tradicija 2003.
  • Il superamento di Kant in Russia // Studi Kantiani 2010, № XXIII, S. 91-106.
  • Die Reflexion der Liebe als Verbindung zwischen Leben und Metaphysik. Kierkegaard – Dostoevskij – Nietzsche – Karsavin // Philosophisches Jahrbuch, Freiburg, München, 106. Jahrgang 1999/1. Halbband, S. 186-205.